Schwierigkeiten mit der Wirklichkeit

Weltaneignung und Weltanschauung im Leben und Werk führender Marxisten, 1870-1918

Bearbeiterin
Dr. Christina Morina

Förderung
Deutsche Forschungsgemeinschaft

Kurzbeschreibung
Das Forschungsvorhaben widmet sich dem programmatischen Wirklichkeitsrekurs im klassischen Marxismus (1870-1914). Es analysiert erstmals empirisch, welches Wissen und welche Erfahrungen führende marxistische Theoretiker von bzw. mit der Lebenswelt der Arbeiter hatten, auf welche Weise sie sich dieses (Erfahrungs-)Wissen aneigneten, es in ihre politische Weltanschauung integrierten und in ihren theoretisch-politischen Schriften verarbeiteten. Die Analyse stützt sich auf Ego-Dokumente und ideengeschichtliche Kerntexte der ersten Generation von marxistischen Sozialdemokraten in vier europäischen Ländern: Deutschland, Österreich, Frankreich und Russland. Die für diese Studie ausgewählten Protagonisten gehörten jeweils sowohl theoretisch als auch politisch-praktisch zu den einflussreichsten marxistischen Politiker(innen) in ihren Ländern: Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg, Victor Adler, Jean Jaurès, Jules Guesde, Georgij V. Plechanow, Wladimir I. Lenin und Pjotr B. Struve.

Ziel ist es, den offenbar vorhandenen, aber bisher wenig beleuchteten Zusammenhang zwischen Weltaneignung und Weltanschauung zu ergründen. Dabei gilt es, systematisch die Lebens- und Gedankenwege dieser neun Personen nachzuverfolgen, die es im Laufe des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts sowohl intellektuell als auch praktisch-politisch zu maßgeblichem Einfluss in die Führung der sozialdemokratischen Bewegung ihrer Länder gebracht haben. Ausgehend von der Beobachtung, dass alle Protagonisten mit etwa Mitte Dreißig ihr führendes Mandat bzw. Amt innerhalb der Partei oder Bewegung erreicht und bis zu diesem Lebensalter auch bereits einige ihrer einflussreichsten Texte publiziert hatten, fokussiert sich das hier zu zeichnende Gruppenportrait und die ihm zugrunde liegende Quellenanalyse auf die Sozialisationswege dieser Personen zum und in den Marxismus bis ins mittlere Erwachsenenalter. Das Vorhaben wird dabei im Kern erörtern, ob und inwiefern die individuelle (etwa als induktiv/reduktiv, flexibel/rigide, spontan/vermittelt kontrastier- und konzeptionalisierbare) Weltaneignungsweise die Inhalte politischer Weltanschauung sowie die Methoden und Mittel politischer Praxis prägten. Welchen Zusammenhang gibt es demnach zwischen „Wirklichkeitssinn“ (Isaiah Berlin) und dem, was man politisches Temperament nennen könnte – gilt etwa: je theoretischer der Kopf, desto radikaler die Hand?